56. Forum für Politik + Wirtschaft: Politische Parteien und Wirtschaftspolitik

Für das 56. Forum Politik und Wirtschaft konnte Gastgeber und Moderator Senator a. D. Reinhard Ueberhorst Prof. Dr. Wilhelm Knelangen als Referenten gewinnen.Er hielt einen Vortrag mit dem Thema "Die Parteien, die Landtagswahl und die Richtung der Wirtschaftspolitik in Schleswig-Holstein" und diskutierte anschließend mit den Teilnehmern. Hier ist eine kurze berichtende Nachbetrachtung des Gastgebers Reinhard Ueberhorst.

Wer bei diesem Forum nicht dabei war und diesen Bericht liest, darf überrascht sein, wie informativ und produktiv eine zweistündige Veranstaltung sein kann, die sich am Verständnis eines aufgabenorientierten Studium generale orientiert und an dem Bologna-Bildungsziel, das auf demokratische Prozesse abhebt und die Befähigung zur bürgerschaftlichen Teilhabe an diesen befördert sehen möchte („democratic citizenship“).[1]

Wer dabei war, erlebte eine sehr informative und produktive Auseinandersetzung mit dem, wie sich zeigte, höchst vertrackten Themenfeld Politische Parteien und Wirtschaftspolitik im Vorfeld der im Mai dieses Jahres anstehenden Landtagswahl in Schleswig-Holstein. Dazu schreibe ich eine berichtende Nachbetrachtung (mit Fußnoten für diejenigen, die tiefer einsteigen wollen.).

Beginnen möchte ich mit Professor Knelangen, dem Referenten. Aus guten Gründen war der Kieler Professor für Politikwissenschaft der Wunschreferent für dieses Forum. Das bedarf keiner langen Begründung. Er ist, auch in der Landespresse, seit Jahren derjenige, der befragt oder um einen Beitrag gebeten wird, wenn es um das Wissen eines kompetenten Parteienforschers für unser Bundesland geht. Auch uns ging es um dieses Wissen, aber die Idee dieses Forums zielte auf mehr. Wir wollten, selbstverständlich nur in bescheidenen Ansätzen, etwas verstehen, was durch die vorliegende Forschung über Politik und Wirtschaft nicht schlicht abgerufen werden kann, weil dazu wenig gearbeitet wurde.[2]

Wilhelm Knelange

Referent Prof. Dr. Wilhelm Knelangen

Angestrebt war eine aufgabenorientierte Reflexion zu dem vertrackten Themenfeld. Bewusst war uns, dass diese nicht in den Grenzen einer wissenschaftlichen Disziplin verlaufen könnte. Im aufgabenorientierten Studium generale adressieren wir Aufgaben, die nicht so strukturiert sind, wie unsere wissenschaftlichen Disziplinen. Und auch Aufgaben, die durch wissenschaftliche Arbeiten nur er- und vermittelt, nicht aber geklärt werden können, weil dafür gesellschaftliche Verständigungsprozesse erforderlich sind.[3]

 

Es war keineswegs selbstverständlich, dass der Wunschreferent sich auf das angestrebte Forum einlassen würde. Er musste ja eine keineswegs selbstverständliche Motivation haben oder entwickeln, sich über vertrautes Terrain hinaus auf das vorgegebene Themenfeld einzulassen. Ins Betrachtungsfeld sollten auch Entwicklungsaufgaben der institutionalisierten Politikwissenschaft kommen. Dazu erzähle ich am Ende dieses kleinen Textes noch eine Anekdote aus den Anfangsminuten des Forums, als Professor Knelangen dem Auditorium vor seinem Vortrag mit einer Vorbemerkung etwas mitteilte, über das man besser schmunzeln kann, wenn man weiß, wie und warum dieses Forum so produktiv verlaufen ist. Wenn ich das dann hoffentlich gut vermittelt habe, kann ich diesen produktiven Verlauf mit meiner Interpretation der Anekdote gut resümieren.

 

Der Referent präsentierte seinen Vortrag mit dem Titel Die Parteien, die Landtagswahl und die Richtung der Wirtschaftspolitik in Schleswig-Holstein, der in vier Teile gegliedert war:

 

I: Entwicklung des deutschen Parteiensystems
II: Lehren aus der Bundestagswahl 2021
III: Landtagswahl 2022
IV: Wirtschaftspolitische Perspektiven

 

Ich kann mich im Weiteren darauf konzentrieren, den Prozess zu charakterisieren, den wir mit diesem Vortrag und der anschließenden Diskussion erlebt haben und einige der Erträge vorzustellen, die damit erreicht wurden. Zunächst das Entscheidende für den gelingenden Prozess, anschließend konkrete Erträge.

 

Wer bei früheren Foren dabei gewesen war, konnte erleben, wie unterschiedlich sie verlaufen können. Auffallend anders war diesmal das Verhältnis von Vortrag und Diskussion. Meistens verbleibt die Diskussion fast, wenn nicht ganz im thematischen Rahmen des Vortrags. Es gibt dann überwiegend Verständnis- oder kritische Nachfragen zu einzelnen Aussagen und in der Folge immer wieder auch wohl begründete Kontroversen. Kontroversen (dazu gehören ja immer mindestens zwei und mindestens einer, der schon zu wissen glaubt, was richtig oder vorzugswürdig ist) gab es diesmal gar nicht. Stattdessen wurden in der Diskussion durchgängig (und als Stil der Gedankenführung sicher auch durch den Vortrag inspiriert) weiterführende Informationen, Gedanken, Erwägungen vorgetragen, die als Beiträge für die Konstruktion von Verständigungsaufgaben zu verstehen waren. Beiträge, die erkennen lassen, dass sie nur Beiträge sind und noch nicht das ganze Bild der Verständigungsaufgabe, die zur Bearbeitung ansteht. Seien es gesellschaftliche, die aber im Politikbetrieb nicht erkennbar behandelt werden. Oder Verständigungsaufgaben zum Aufgabenverständnis der institutionalisierten Politikwissenschaft, das mit diesen als entwicklungsbedürftig adressiert wird.

Die überwiegende Anzahl der Beiträge zielte auf Themen, die 1. zweifellos zu einer weit verstandenen Wirtschaftspolitik gehören, 2. im Vortrag nicht angesprochen worden waren und 3. Fragen aufwarfen, die der Referent nicht beantworten konnte, weil sie sich eher an eine nicht vorhandene, andere Politikwissenschaft oder an die Parteien richteten, bei diesen aber Aufgabenverständnisse und Leistungsziele voraussetzten, die derzeit bei den Parteien nicht entdeckt werden können. Ja es ist unklar, ob sie um diese überhaupt wissen und sich damit beschäftigen und ob Politikwissenschaftler:innen darin für sich mehr als eine Beschreibungsaufgabe sehen.

Entscheidend für den gelingenden Prozess des Forums (im Sinne der angestrebten aufgabenorientierten Reflexion) war der klug differenzierende Umgang mit Wissen und Nichtwissen aller Beiträge, sowohl des Referenten als auch der Forumsteilnehmer, die die Diskussion thematisch prägten.

 

  • Der Referent beförderte den produktiven Verlauf des Forums durch Wissen aus der politikwissenschaftlichen Parteienforschung, das er mit seinem Vortrag und auch in die Diskussion einbrachte: präzise, gut verständlich und urteilssicher für das, was sich als politikwissenschaftliches Wissen präsentieren lässt und was nicht.
  • Nicht weniger förderlich für den produktiven Verlauf war sein Sensorium für relevantes Nichtwissen. Es zeigte sich immer wieder auch darin, dass er kritische Anfragen an vermisste Arbeiten von Politikwissenschaftlerinnen nicht abwehrte, sondern konstruktiv aufnahm. Die Teilnehmenden, gerade auch Jüngere, fühlten sich dadurch erkennbar ermutigt, über das Gehörte mit weiterführenden Fragen und Überlegungen hinauszugehen. Mit neuen Fragen zu politischen Parteien, insbesondere zu ungeklärten Gütekriterien ihrer Arbeit und ihrer ungeklärten Rolle in der Demokratie einer modernen Wissensgesellschaft.

Nehmen wir ein Beispiel aus der Entwicklung unseres Parteiensystems von 1976 bis 2021. 1976 hatten wir im Deutschen Bundestag drei Fraktionen, 2021 sechs. 1976 hatten die beiden großen Fraktionen CDU/CSU und SPD zusammen 91,2% der Wählerstimmen, 2021 weniger als 50%, genauer 49,8% und es gab mehrere Koalitionsmöglichkeiten. Welche Schlussfolgerungen ziehen Politikwissenschaftler daraus und wer steht damit vor welcher Aufgabe? Das sind zwei Fragen, die wir gut unterscheiden müssen. Die erste beantworten Politikwissenschaftler. Die zweite zeitigt einen größeren Fragenkomplex zu Verständigungsaufgaben jenseits der Politikwissenschaft, die aber durch diese erhellt werden.

 

Die erste Frage beantwortete Professor Knelangen mit seinem Fazit der im Vortrag aufgezeigten Entwicklung unseres Parteiensystems. Er übernahm eine eingängige Formulierung des Berliner Politikwissenschaftlers und Demokratieforschers Wolfgang Merkel: „Wir wählen ins Blaue!“ Professor Knelangen stellte den Befund als ein „Problem“ heraus. Auch darin seinem Kollegen folgend, der in einem Interview vor der letzten Bundestagswahl 2021 davon gesprochen hatte, dass uns als Bürgerinnen und Bürgern etwas „vorenthalten“ werde. Vorenthalten werde die Möglichkeit, mit der Stimme zu entscheiden, welche Koalitionsbildung erreicht werde.[4] Wenn die Anzahl der Parteien im Parlament zunimmt, wenn die einst großen Parteien deutlich abnehmen, wenn für eine Regierungsbildung drei oder mehr Parteien erforderlich und mehrere Koalitionen möglich sind, dann, so Knelangen, haben wir das Problem, dass eine Wahl keine Richtungskontrolle einer zukünftigen Regierung gewährleistet. Wir wählen dann ins Blaue. Was aber heißt das?

 

Mit dem analytischen Befund stehen Fragen im Raum, wie er zu bewerten ist und wozu er uns (wen?) herausfordert. Welche praktischen, rechtlichen oder politischen Schlussfolgerungen sind aus der Schlussfolgerung „Wir wählen ins Blaue hinein!“ zu ziehen, die die Politikwissenschaftler mit ihrem analytischen Befund aus der Entwicklung des Parteiensystems ziehen? Und wer zieht sie, wenn diese Entwicklung nicht als unabwendbar oder gar als Pseudoproblematik hingenommen werden soll? Diese Fragen harren derer, die sich ihnen zuwenden wollen. Das Forum zeitigte weitere solcher Fragen.

Von mehreren Teilnehmern, die sich im Studium oder als Wissenschaftler intensiv mit bestimmten Themen beschäftigen, wurden in der Diskussion wirtschaftsbezogene Themen angesprochen, die in Knelangens Vortrag nicht vorgekommen waren und auch durch die politischen Parteien nicht weithin wahrnehmbar herausgestellt werden. Mit ihnen wurde ein Zweifel artikuliert, ein Zweifel an der Fähigkeit politischer Parteien, neue Themen und Aufgaben der Wirtschaftspolitik zu erkennen und in innerparteilicher Demokratie zu entwickeln. Zwei Beispiele. Ein Alumnus thematisierte seine erfolglosen Versuche, nachvollziehbare Konzepte politischer Parteien zum sogenannten „Überwachungskapitalismus“ zu finden.[5] Ein anderer sprach das sogenannte „Verantwortungseigentum“ an, das unter dem Begriff „Gesellschaften mit gebundenem Vermögen“ Eingang in den Koalitionsvertrag der Ampelkoalition gefunden hat und zu dem das Bundesjustizministerium Arbeiten aufgenommen hat, um ein entsprechendes Gesetz zu erarbeiten.[6] Wie konnte diese Idee einer neuen Gesellschaftsform – der „Gesellschaft mit gebundenem Vermögen“ – in den Koalitionsvertrag kommen? Was sollen wir uns darunter vorstellen? Keiner der Anwesenden konnte irgendetwas über eine innerparteiliche Willensbildung in einer der drei Parteien der Ampelkoalition zu diesem Thema berichten und schon gar nicht über eine öffentlich sichtbar gewordene. Wie es aussieht (nur bei diesem Thema?) brauchen die führenden Akteure der Regierungsparteien ihre Parteien nicht mehr als willensbildende Organisationen.

 

Es ist auch denkbar, dass die Entwicklungsaufgabe gesellschaftlicher Politikfähigkeit durch unsere Parteien verkannt, verdrängt, geleugnet oder durch die Vorstellung ersetzt wird, sich als Partei in anderer Weise zu bewähren (insbesondere im Regieren, im guten Regieren). Letzteres wäre für andere eine Fehlentwicklung, die auch schon länger Thema politikwissenschaftlicher Analysen und Diagnosen ist.[7] In dieser Perspektive wurde auch eine wachsende Tendenz der Regierenden kritisch gewürdigt, innerparteiliche und öffentliche Willensbildung durch Konsensprozesse in Kommissionen zu ersetzen. Als Vorbild nannte Bundesminister Habeck jüngst zwei Kommissionen, die durch ihre Ausblendung von Alternativen bekannt sind. Da wird die simulierte gesellschaftliche Verständigung zur Endlagerpolitik zum Modell für „Konsenspolitik“.[8]

 

In beiden Einlassungen ging es nicht darum, in den genannten Themenfeldern über eine jeweils vorzugswürdige Politik zu streiten oder den Referenten nach seiner Position zu befragen. Es ging aufgabenorientiert um das Anliegen, die Bedeutung und Rolle politischer Parteien in unserer Demokratie zu verstehen und dafür klärungsbedürftige Fragen zu identifizieren. Darunter diese:

 

  • Was sollen politische Parteien anstreben, wenn es um die Entwicklung neuer Themen und Aufgaben der Wirtschaftspolitik geht? Gibt es dafür Maximen und Gütekriterien für alle Partien oder kann jede das halten, wie sie es möchte?
  • Was heißt es, wenn diese Themen immer weniger, wenn überhaupt noch in politischen Parteien originär entwickelt werden?
  • Weiter: Was erwarten wir von Parteien im Hinblick auf ihre Fähigkeit, thematisch auf eine gute politische Tagesordnung in öffentlichen Diskussionen hinzuwirken? Wissend, dass diese nur eine der notwendigen Vorleistungen für gut ermöglichte öffentliche Diskussionen darstellt, ohne die eine Demokratie nicht gelingen kann. Diese Frage wurde in verschiedenen Zugängen aufgeworfen. Ein Diskutant rekurrierte auf das breite Spektrum von Denkweisen zur politischen Ökonomie, dem ein ärmeres der politischen Parteien gegenüberstände. Als eine Stimme der politischen Ökonomie in Deutschland konnte man dabei an den streitbaren früheren Direktor des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung denken. Wolfgang Streeck hat schon vor einigen Jahren festgestellt: „In ihrem gegenwärtigen Zustand (vermag) das deutsche Parteiensystem … die entscheidenden Fragen der deutschen Politik nicht einmal ernsthaft zur Diskussion zu stellen.“[9]
  • Das führt zu der Frage an die Politikwissenschaft: Ist das vermisste „Ernsthaft-zur Diskussion-stellen-relevanter-Fragen“ nur ein Wunsch, den man teilen kann oder nicht oder eine Erwartung, die durch Politikwissenschaft begründet und immer wieder konkret auch in konkrete Erwartungen übersetzt werden muss? Etwas ernsthaft zur Diskussion stellen zu können hieße in dieser Sicht dann auch alternative Optionen, gemeinsam anerkannte Werte für ihre Bewertung, Gründe für Dissense aufzeigen zu können.[10]
  • Und, vielleicht der dramatischste Aspekt: Was heißt es weiter, wenn politische Parteien nicht mehr aufzeigen können, sich zu den aufgerufenen Themen alternative Optionen bewusst gemacht und diese in innerparteilicher Willensbildung geklärt zu haben, bevor sie sich auf diese oder jene Position festlegten? Auch hier stellt sich für eine demokratieorientierte politikwissenschaftliche Parteienforschung die Frage, ob sie die Parteien und ihre Arbeitsformen nur beschreibend begleitet oder ob sie Anspruch und Kompetenzen hat, Gütekriterien parteipolitischer Arbeitsprozesse aufzuzeigen und ihre Beachtung einzufordern.

Gelingende Wirtschaftspolitik als gelingender Prozess.

Aufgabenorientierte Wirtschaftspolitik zu komplexen aktuellen Herausforderungen – beginnend mit der verspätet angegangenen anspruchsvollen Klimapolitik – zeigt sich nicht nur im Gespür für Themen und in einer kompetenten Konzeptentwicklung. Gute aufgabenorientierte Wirtschaftspolitik ist mehr und mehr als ein Prozess zu verstehen, der nur gelingen kann, wenn die Voraussetzungen für ihn vorliegen, die nicht quasi von Natur aus gegeben sind und die auch niemand alleine herstellen kann; auch keine einzelne Partei, auch keine Regierungskoalition. Es geht dann darum, sich im Umgang mit komplexen Verständigungsaufgaben zu bewähren. Das Bild dieser Verständigungsaufgaben ergibt sich nicht aus der Summe kontroverser parteipolitischer Positionen, so solche vorliegen. Natürlich erst recht nicht, wenn sie nicht vorliegen, weil das jeweilige Thema bei ihnen nicht angekommen ist und keiner Bearbeitung zugeführt werden konnte. Eine Kontroverse wandert dann aus der Arena parteipolitischer Kontroversen aus; mit Folgen für eine parteiengeprägte repräsentative Demokratie.

Niemand plädierte auf dem Forum dafür, die gebotenen Verständigungserfolge vorbei an Parteien, ohne sie anzustreben. Wie sollte das auch gelingen? Deutlich angesprochen wurde aber, dass Parteien sich stärker als kompetente Beteiligte an Prozessen kooperativer Politik verstehen und erweisen sollten. Professor Knelangen sah hier die Klimapolitik als „Gamechanger“. Auch dies ein Verweis auf erkennbare Entwicklungsaufgaben.

Zum Schluss noch die angekündigte Anekdote. Hätte ich mich in meinem Bericht chronologisch streng an den Verlauf des Forums gehalten, hätte sie an den Anfang gehört. Gleich nach der freundlichen Begrüßung des geschätzten Referenten, für die dieser freundlich gedankt hatte, schenkte der Referent allen bis auf einen, der dies wusste, eine Information. Eine Vorbemerkung, die ihm ganz offenbar wichtig war, für die Zuhörenden kam sie aber unerwartet und manch eine/r wird irritiert gewesen sein.

Ohne erkennbar klagenden Unterton, eher als sympathische Captatio Benevolentiae teilte der Referent mit, dass er hartnäckig gebeten worden sei, über Wirtschaftspolitik zu sprechen, was nicht seine „Lieblingsbaustelle“ wäre. Was wollte er uns mit dieser Vorbemerkung sagen? Was sollten wir mit ihr verstehen?

Manche der Anwesenden mögen ein „trotzdem habe ich die Einladung angenommen“ herausgehört haben. Oder doch eine verständliche, berechtigte Klage über einen bekanntermaßen nur begrenzt flexiblen Planer. Gegen eine solche Klage hätte ich nichts einwenden können. Wie denn auch? Jeden Wunschreferenten kann man nur um etwas bitten, worauf er sich gerne einlässt. Mir war ja bewusst, dass ich den Wunschreferenten um etwas gebeten hatte, was durch die vorliegende politikwissenschaftliche Parteienforschung nicht schlicht abgerufen werden kann. Ich hatte mir aber vorstellen können, dass er sich gerne darauf einließe – und so war es. Wie besser hätte er das sagen können als durch diese im Moment ihres Vortrags nicht verständliche Vorbemerkung?

In den Vortragsfolien taucht die Vorbemerkung nicht auf, ich bin mir aber sicher, dass sie Professor Knelangen nicht spontan eingefallen war, dass er sie mitgebracht hatte, so wie er auch sonst manches mitgebracht hatte, was sich nicht in Vortragsfolien verschriftlichen lässt, was aber eine produktive Atmosphäre zur kooperativen aufgabenorientierten Reflexion in einer Vortrags- und Diskussionsveranstaltung beförderte. In dieser Absicht artikulierte er zum Beispiel eine starke Sympathie für steuerungsskeptische Argumente, plädierte aber angesichts großer politischer Herausforderungen auch dafür, ein neues Steuerungsverständnis zu entwickeln, weil wir es bräuchten.

Auch seine Interpretation der Klimapolitik (ohne die ja heute niemand mehr über Wirtschaftspolitik sprechen könne) als „Gamechanger“ und der Hinweis auf die stark gewachsene Bedeutung einer politischen Gestaltung neuer technologischer Entwicklungen (ohne die sich auch eine aufgabenorientierte Wirtschaftspolitik nicht mehr denken lasse) zeigten uns an, dass er sich nicht in seinen bisherigen Lieblingsbaustellen einmauern, sie aber auch nicht verschweigen wollte. Der Hinweis auf die Lieblingsbaustellen und deren Distanz zum Thema dieser Veranstaltung musste frühzeitig gegeben werden, um ein Wissen zu vermitteln, das in seiner Bedeutung für aufgabenorientiertes Denken nicht hoch genug geschätzt werden kann: Wenn wir – wie mit dem Beziehungsfeld Politische Parteien und Wirtschaftspolitik – Anlässe für eine aufgabenorientierte Reflexion haben, dürfen wir uns davon durch bisherige „Lieblingsbaustellen“ nicht abhalten lassen.

Es wäre schön, wenn Professor Knelangen in einigen Jahren erneut zu uns käme, um zu berichten, wie sich die Politikwissenschaft in diesen Jahren im Verständnis ihrer ratio essendi aufgabenorientiert weiterentwickelt hätte und auch, wie sich damit seine „Lieblingsbaustellen“ als politikwissenschaftlicher Parteienforscher in diesen Jahren vermehrt und verändert hätten. Vielleicht auch ein klein wenig infolge dieser „interessanten Diskussion“, die er (wie er uns sagte) mit dieser Veranstaltung erlebt hatte. Ganz gewiss, werden wir im Studium generale der NORDAKADEMIE vertiefend auf seinen Vortrag und die durch ihn angeregte Diskussion zurückkommen *** im Seminar „Politik und WirtschaftBasiswissen und -kompetenzen für Querdenker“, zu dem interessierte Bachelor- wie Masterstudierende und auch Alumni eingeladen sind.

 

[1] Zum Verständnis eines aufgabenorientierten Studium generale vergl. Reinhard Ueberhorst: Gesellschaftliche Politikfähigkeit und diskursive Politik – Ziel und Entwicklungsaufgaben. In: Georg Plate (Hrsg.): Forschung für die Wirtschaft. Shaker, Aachen, S. 173–194, insb. S. 191 f; ders. „Grosse gesellschaftliche Herausforderungen“ und das aktuelle Anregungspotenzial philosophischer Werke aus früheren Zeiten im Studium generale. In: Präsidium der Nordakademie – Hochschule der Wirtschaft (Hrsg.): Nordblick – Forschung an der Nordakademie. Heft 4/2017, Elmshorn, S. 78–94, insb. S. 80-84

[2] Sehr illustrativ für die Vernachlässigung unseres Themenfeldes ist das ansonsten für viele andere Themen im Beziehungsfeld Politik und Wirtschaft sehr informative Handbuch Politik und Wirtschaft. Ein integratives Kompendium, Springer, Wiesbaden 2018; erschienen auch als Sonderausgabe der Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn 2020. herausgegeben durch Karsten mause/Christian Müller und Klaus Schubert. Zur Begrenztheit politikwissenschaftlicher Parteienforschung siehe auch Wolfgang Streeck on Peter Mair, Ruling the Void. Diagnosis of Western democracy’s hollowing in the final work of a political-science master. NLR 88•July/Aug 2014. Streeck würdigt das Werk des Politikwissenschaftlers sehr positiv, merkt aber kritisch an, er bliebe „on his home turf of political science“. Damit blieben ihm wichtige Einsichten verstellt. “Mair refrains from venturing into political economy, even though the trends he describes—the transfer of economic policy to ‘non-accountable’, technocratic institutions; the elimination of egalitarian redistribution from Western governments’ political agendas—suggest the rise of a new political-economic regime, after the victory of capital in the struggles of the 1970s.” https://newleftreview.org/issues/ii88/articles/wolfgang-streeck-the-politics-of-exit Streeck bezieht sich auf das Werk des Parteienforschers Peter Mair, dessen Sichtweise einer Aushöhlung der Demokratie durch versagende Parteien auch Prof. Knelangen in seinen Vortrag aufgenommen hatte. Peter Mair: Ruling the Void: The Hollowing of Western Democracy, Verso: London and New York 2013. Streecks Kritik an Mair erfasst Lücken in der Beschreibung der Wirklichkeit durch politikwissenschaftliche Parteienforschung, wenn diese sich der politischen Ökonomie nicht zuwende. Sie bleibt aber rein analytisch-empirisch orientiert und führt nicht dazu, aufgabenorientiert nach nicht beliebigen Leistungszielen zu fragen, an denen politische Parteien sich orientieren müssten, wenn sie Themen entwickeln oder an der Willensbildung des Volkes (gemäß unserer Verfassung) teilnehmen.

[3] Diese multi- und transdisziplinäre Orientierung unterscheidet unsere Foren im Studium generale von anderen Veranstaltungsreihen anderer Hochschulen oder Akademien, die Vorlesungen im Studium generale als Potpourri verschiedener Fachvorträge von kompetenten Vertreterinnen diverser Fächer präsentieren.

[4] Merkel wörtlich: „Bislang konnten sich Wählerinnen und Wähler meist recht gut ausrechnen, welche Koalition sie mir ihrer Stimme am Ende fördern würden. In diesem Jahr wählen wir erstmals eine Partei, haben damit aber wenig Ahnung, welche Koalition am Ende die Regierung übernimmt, denn die Bundestagsmandate von zwei Fraktionen werden kaum mehr ausreichen, um eine Mehrheit zu bilden. Eine präzise Auswahl der künftig Regierenden wird uns vorenthalten. Dabei macht es einen drastischen Unterschied, ob in Deutschland eine Ampel- oder eine Jamaika-Koalition regiert. Man könnte auch sagen: Wir wählen ins Blaue hinein.“ www.tagesspiegel.de/politik/wie-steht-es-um-die-demokratie-wir-waehlen-ins-blaue-hinein/27611294.html

[5] Vergl. dazu Beiträge von Shoshana Zuboff in der FAZ und der New York Times, Shoshana Zuboff: Googles Überwachungskapitalismus (faz.net) ; https://www.nytimes.com/2021/11/12/opinion/facebook-privacy.html und ausführlicher ihr Buch The Age of Surveillance Capitalism, New York, 2019 (deutsche Ausgabe: Das Zeitalter des Überwachungskapitalismus, Campus, Frankfurt a.M., 2020

[6] Im Koalitionsvertrag der Ampelkoalition heißt es auf der Seite 30: „Zu einer modernen Unternehmenskultur gehören auch neue Formen wie Sozialunternehmen, oder Gesellschaften mit gebundenem Vermögen. Wir erarbeiten eine nationale Strategie für Sozialunternehmen, um gemeinwohlorientierte Unternehmen und soziale Innovationen stärker zu unterstützen. Wir verbessern die rechtlichen Rahmenbedingungen für gemeinwohlorientiertes Wirtschaften, wie zum Beispiel für Genossenschaften, Sozialunternehmen, Integrationsunternehmen. Für Unternehmen mit gebundenem Vermögen wollen wir eine neue geeignete Rechtsgrundlage schaffen, die Steuersparkonstruktionen ausschließt. Hemmnisse beim Zugang zu Finanzierung und Förderung bauen wir ab.“

[7] Zur Sichtweise einer Aushöhlung der Demokratie durch versagende Parteien siehe Peter Mair Ruling the Void: The Hollowing of Western Democracy, Verso: London and New York 2013.

[8] In einem Interview in sh:z-Zeitungen am 27. November 2021 erklärte Habeck seine Vorstellungen zur Autobahnpolitik: „Wir wollen für die Entscheidung über Autobahnprojekte in einen Dialogprozess mit Verkehrs-, Wirtschafts-, Umwelt- und Verbraucherschutzverbänden eintreten. Ziel ist es, einen Infrastrukturkonsens zu erreichen. Im Prinzip soll das ähnlich laufen wie bei der Atomendlager-Kommission in der vorletzten Wahlperiode oder der Kohlekommission in der letzten Wahlperiode. Dabei soll die Politik gemeinsam mit den Verbänden und der Gesellschaft entscheiden, welche Autobahnen noch gebaut werden und welche nicht.“

[9] in Zeit-online 29.8. 2018

[10] Wie es z.B. in der Atommüllpolitik in Deutschland bislang keine Partei angestrebt, geschweige denn geleistet hat. Ist dies aus der Sicht der Politikwissenschaft hinzunehmen oder sollte die Politikwissenschaft im Verständnis ihrer ratio essendi als wissenschaftliche Disziplin über eine Kompetenz und einen Anspruch verfügen, nicht beliebige Leistungsziele im Umgang mit politischen Optionen aufzeigen und begründen zu können? So R. Ueberhorst in Wie beliebig ist der Umgang mit politischen Konflikten im Raum der strategischen Energie- und Umweltpolitik? In: Peter H. Feindt, Thomas Saretzki (Hrsg.): Umwelt- und Technikkonflikte. VS-Verlag, Wiesbaden, S. 54–75