Zur Aktualität der Produktiven Stadt in Zeiten der Pandemie

Seit Jahren argumentiert er für das Leitbild der Produktiven Stadt. Alles dies passt perfekt in den Themenraum, der uns interessiert. Jetzt mit dem zusätzlichen Impuls, die Zeiten der Pandemie für überfällige Lernprozesse zu nutzen. Daher die Aktualität im Titel des Vortrags für unser Forum.

Aus Läpples Arbeiten ist zu lernen, wie wissenschaftliche Erkenntnisse aus ökonomischen und technologischen Forschungen in ethischer Verantwortung zu einem normativen Konzept verbunden werden, das auf politisch motivierte Aktivitäten sehr vieler Akteure zielt, nicht nur staatlicher. Um solche Konzepte geht es uns mit den Foren wie auch im Seminar „Politik und Wirtschaft“ im Studium generale der NORDAKADEMIE. Aufgerufen werden politische Herausforderungen oder Chancen, die als transwissenschaftliche Fragen zu verstehen sind. Sie können gut und oft auch nur noch durch Wissenschaftler*innen erkannt, aufgezeigt und vermittelt, nicht aber durch sie entschieden werden.

Prof. Dr. Dieter Läpple

Prof. Dr. Dieter Läpple

Damit kommen politische, demokratische Prozesse ins Blickfeld und mit ihnen – geht es doch um eine Hochschulveranstaltung – das eine Bologna-Bildungsziel, das auf demokratische Prozesse explizit abhebt. Es wird selten genannt, wenn man nach den vier Bologna-Bildungszielen für Hochschulen fragt. Genannt werden eher die Wissensvermittlung (knowledge base), die Berufsbefähigung (employability) und die Persönlichkeitsentwicklung (personal development) der Studierenden.

 

Seltener die Befähigung zur bürgerschaftlichen Teilhabe in demokratischen Prozessen (democratic citizenship). Zu diesem Ziel haben wir etwas gelernt, was auf keinem der 51 vorausgehenden Foren so deutlich wurde. Deutlich werden konnte es nur durch eine sehr gute kontroverse Diskussion und einen Vortrag, der zu ihr anregte.

 

Die Diskussion, deren Ertrag ich hier vorstellen möchte, wurde zur vorher festgelegten Zeit beendet, schriftlich wie telefonisch aber noch Tage nach dem Forum fortgesetzt. Sie war, wie ich berichten kann, intensiv, kontrovers und immer wieder auch irritierend, weil erkennbar kontroverse Antworten auf unterschiedliche Fragen gegeben wurden, was nur auflösbar ist, wenn wir für die Vielfalt der Sichtweisen eine gemeinsame Aufgabenstellung erkennen. Eine solche sehe ich mit dieser produktiven Forumsdiskussion für unser Verständnis des angesprochen vierten Bologna-Bildungsziels. Inspiriert wurde die Diskussion durch einen gedankenreichen Vortrag.

 

Ich referiere seine Kerngedanken, Vorlagen des Referenten nutzend: Durch die Corona-Pandemie, so Läpple, werden die Schwächen unserer Gesellschaft gnadenlos offengelegt. In der Ökonomie zeige sich die enorme Störanfälligkeit einer hochgradig globalisierten und spezialisierten Wirtschaft. Bereits bestehende strukturelle Probleme unserer Städte werden verstärkt und zwingen uns, die Stadtkonzepte, Planungsvorstellungen und auch unsere architektonischen Konzepte zu überdenken.

 

Im Stadtdiskurs dominierte in den letzten Jahrzehnten das Konzept der postindustriellen Stadt. Die ökonomische Basis der Städte habe sich tiefgreifend verändert. Heute – so scheint es – prägten Dienstleistungen die Ökonomien der Städte. Nicht zuletzt als Folge einer Stadtpolitik, die vor allem auf störungsfreies Wohnen und die einseitige Förderung von Dienstleistungen ausgerichtet war, werde das urbane Aufstiegsversprechen untergraben und der ökologische Fußabdruck immer größer.

 

Reinhard Ueberhorst

Reinhard Ueberhorst, Senator a. D.

Integrationskraft und Aufstiegspotenziale städtischer Arbeitsmärkte haben sich mit dem wirtschaftlichen Strukturwandel gravierend verringert. Die soziale „Rolltreppe“ nach oben, die Geringerqualifizierte früher bestiegen haben, als sie in die Stadt zogen, funktioniere nicht mehr. Mit der Auslagerung der materiellen Produktion wurde der Zusammenhang von Produktion und Konsumtion räumlich entkoppelt und damit auch die Verantwortung für die Probleme der Ressourcenbeschaffung, der Emissionen und der Entsorgung von Abfall ausgelagert.

 

Mit dem Vortrag stellte der Stadtforscher sein „normatives Konzept“ vor und zeigte damit, warum und dass eine Rückkehr der Produktion in die Stadt eine realistische Perspektive ist. Wegerschließend für diese Erkenntnisse sei es zu fragen:

  • Ist es tatsächlich so, dass das produzierende Gewerbe in unseren Städten keine Zukunft mehr hat? Liegt die Zukunft der urbanen Arbeitswelten nur noch in den Dienstleistungen – insbesondere in der Wissens-, Informations-und Kreativwirtschaft und den gering entlohnten, meist prekären Jobs in Bereichen wie Gastronomie , Einzelhandel, Reinigung oder Bewachung?

Läpples Antwort: Der sich abzeichnende Trend zu einer Dienstleistungsgesellschaft sei nicht gleichzusetzten mit einer De-Industrialisierung im Sinne eines Verschwindens der Industrie. Die wissensbasierte Ökonomie basiere nicht auf einer Ablösung der Industrie durch Dienstleistungen, sondern einer Transformation, die zu neuen Verflechtungs- und Bedingungszusammenhängen von Industrie und Dienstleistungen führe. Materielle Produktion – auch in ihrer industriellen Form –bleibe eine notwendige Basis der Stadt.

 

Das Konzept der Produktiven Stadt sei zunächst ein „Suchkonzept“ bei der Neuerfindung der Stadt. Die Produktive Stadt basiere auf der Einsicht in die Materialität des Städtischen und damit auf einer überfälligen „materiellen Wende“ in der Stadtdiskussion. Sie sei ausgerichtet auf eine Überwindung der funktionalen Trennung. Eine Stärkung der produktiven Basis der Städte werde nicht nur durch die Potentiale der Digitalisierung ermöglicht, sondern auch durch Veränderungen in der globalen Ökonomie, einen sich abzeichnenden gesellschaftlichen Wertewandel sowie die immer drängender werdenden Notwendigkeit einer Dekarbonisierung der Wirtschaft und Gesellschaft. Sie sei eine inklusive Stadt, die eine Vielfalt an unterschiedlichen Arbeitswelten, Wohnlandschaften und Lernarenen biete. Sie benötige offene Möglichkeitsräume für unvorhersehbare Zukünfte und Experimentierorte für problemgetriebene Innovationen.

 

Aufgenommen sieht Professor Läpple diese Zielsetzung in der Neuen Leipzig-Charta 2020: Die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl [1]. Sie wurde am 30. November 2020 beim informellen Ministertreffen zur Stadtentwicklung im Rahmen der deutschen EU-Ratspräsidentschaft beschlossen. Die Neue Leipzig-Charta definiert einen politischen Rahmen, um die Agenda 2030 der UN, den Green Deal der Europäischen Kommission und die Klimarahmenkonvention von Paris auf städtischer Ebene umzusetzen. Dazu formuliert diese Charta drei Handlungsdimensionen für eine transformative Stadtentwicklungspolitik: 1. die gerechte Stadt, 2. die grüne Stadt, 3. die produktive Stadt.

Der Vortrag zeitigte

  • nicht nur viel Zustimmung zum vorgetragenen Konzept, Nachfragen zu seinem Verständnis und wenige politische (für den Referenten \"neoliberale\") Widersprüche zum vorgestellten normativen Konzept einer Produktiven Stadt. Der Vortrag provozierte auch
  • sehr interessante, aber widersprüchliche Fragen zu politischen Prozessen, die in dem Vortrag nicht behandelt worden waren, die man aber aus der Sicht der Diskussionsbeiträge beantworten können muss, wenn man sich vorstellen möchte, nicht nur über ein interessantes normatives Konzept zu sprechen, sondern über etwas, das umgesetzt werden kann oder über Entscheidungsprozesse in guter Kenntnis von Alternativen (also nicht nur eines stark präsentierten Konzepts) oder über politische Konflikte, in denen man genauer wissen möchte, wer warum gegen das Konzept der Produktiven Stadt agiert.

Unglücklich und für eine Weile nicht zu vermeiden war, dass Professor Läpple diese Fragen zur Beförderung guter politischer Prozesse als Kritik an seinem Vortrag wahrnahm. Diese Sicht teilten auch andere. So hatte Leonie Malchow, studierte Stadt- und Kulturwissenschaftlerin aus Berlin, den Eindruck, dass der Wissenschaftler Läpple hier mit falschen Erwartungen konfrontiert worden wäre. Sie schrieb zu dem Forum: "Mich verwunderten die ähnlichen Fragestellungen im Anschluss dahingehend, dass sie den Anschein erweckten, von einem Sozialwissenschaftler konkrete Handlungsstrategien für die Umsetzung in die Praxis zu erwarten." Dieser für sie falschen Erwartung stellte sie die Auffassung gegenüber, "Aufgabe der Entscheidungsträger*innen in Politik und Verwaltung sei es jedoch, aus den Handlungsempfehlungen der Wissenschaft konkrete Pläne abzuleiten."

 

Es war offensichtlich, dass diese Sicht in der Diskussion nicht allseits geteilt, aber auch nicht widerlegt wurde. Wie denn auch? Wir befinden uns hier im Feld höchst unterschiedlicher Vorstellungen darüber, wie wir uns in einer demokratischen Gesellschaft die demokratischen Prozesse der Willensbildung und Entscheidungsfindung vorstellen. Was ist die Rolle der Expertinnen und Experten? Was sind die Aufgaben und Leistungsziele, denen sie gerecht werden sollen? Sollen sie Umsetzungsaspekte beachten wollen? Wollen sie das leisten, was sie für demokratische Prozesse leisten sollten? Was wäre von ihnen zu leisten, damit komplexe Alternativen gut erarbeitet, gut analysiert, gut vermittelt, gut beraten werden? Was folgt daraus, dass sie sich dafür ganz verschiedenen Erwartungen gegenüber sehen?

Wenn auf diese Fragen wie auf unserem Forum sehr unterschiedliche Antworten gegeben werden, können wir uns zwei Einsichten bewusst machen, die vertiefend auszuarbeiten sind:

Einsicht 1: Die aktuelle Vielfalt unterschiedlicher Vorstellungen über die Rolle der Wissenschaftler*innen in Prozessen politischer Willensbildung und Entscheidungsfindung hat negative Folgen für die Qualität praktisch erreichter und erreichbarer Prozesse.

 

Einsicht 2: Zur Klärung der im Raume stehenden Dissense gibt es keine wissenschaftliche Disziplin und auch keine verbindlich orientierende rechtliche Ordnung, die uns den Weg weisen könnten. Überfällig sind gesellschaftliche Verständigungsprozesse über die Prinzipien und Leistungsziele der anzustrebenden Kooperation wissenschaftlicher und politischer Akteure. Das ist eine Entwicklungsaufgabe. Sie geht hinaus über die zwei Auffassungen, die Frau Malchow gegenüberstellt hatte, schließt deren Erörterung aber ein.

 

Das Forum war eine höchst anregende Erfahrung, weil diese Entwicklungsaufgabe durch den Vortrag und seine Diskussion so klar verdeutlicht wurde. Professor Läpple selbst baute die Brücke zu dieser Wahrnehmung, als er auf eine kritische Einlassung eines Alumnus der NAK, der die Vorteile vermiedener Durchmischungen in Stadtteilen mit hohen Mieten verteidigt sehen wollten, mit der Frage antwortete: In welcher Stadt wollen wir leben?

 

Das verwies auf gebotene Willensbildungsprozesse, auf die Notwenigkeit öffentlicher Diskussionen und dafür auf die Kenntnis von Alternativen. Letzteres wurde von mehreren Rednerinnen unterstrichen, aber nicht von allen. Dies ist eine wichtige Erfahrung für diejenigen, die sich vorstellen, mit der Hochschulbildung die Kompetenz der Studierenden zu befördern, sich in demokratische Prozesse einbringen zu können. Wie soll das gehen, wenn doch über die richtige Anlage und Gestaltung dieser demokratischen Prozesse so unterschiedliche Vorstellungen bestehen?

 

  • Die Produktive Stadt ist ein Thema, das wir besser verstehen, wenn wir mit ihm immer mitdenken, wie es optimal in demokratischen Prozessen befördert werden kann. In demokratischen Prozessen, zu denen das vierte Bologna-Bildungsziel sagt, dass Hochschulen Studierenden helfen sollten, sich in sie einzubringen.

  • Der Vortrag und seine Diskussion führten uns zu diesen gebotenen demokratischen Prozessen. Dabei wurde aber auch deutlich, dass wir nicht von einem weithin geteilten Verständnis ausgehen können, wie diese demokratischen Prozesse angelegt und welche Akteure, insbesondere auch aus der Wissenschaft, welche Beiträge einbringen sollten.

  • Die Vielfalt von Denkweisen zeigte, wie schwierig es ist, in dem vierten Bologna-Bildungsziel eine schon weithin klar erkannte Aufgabe zu sehen. Beteiligung in demokratischen Prozessen ist mehr als eine Beteiligung an Wahlen. Es geht auch um Prozesse der Themenfindung, der Entwicklung, Interpretation, Beratung und Bewertung von Alternativen. Für diese Prozesse haben wir ein Defizit an gemeinsamen Leistungszielen, um sie erfolgreich zu gestalten. Wenn wir diese Defizite ignorieren, wird das vierte Bildungsziel zu einer rhetorischen Floskel.

Ausgewählte Publikationen von Dieter Läpple zum Konzept der Produktiven Stadt:

 

  • Produktion zurück in die Stadt. Ein Plädoyer. In StadtBauwelt 211, 2016, 22-29
  • Perspektiven einer produktiven Stadt. In Schäfer, Klaus (ed.), Aufbruch in die Zwischenstadt. Urbanisierung durch Migration und Nutzungsmischung, Bielefeld 2018, 150-76
  • Zur Aktualität der Produktiven Stadt in Zeiten der Pandemie, europan 15, 15-24
  • BDA-Denklabor – Don’t Waste the Crisis

Für Bachelor- wie Masterstudierende der Hochschule und Alumni besteht die Möglichkeit, die im Forum erkannten Fragen wieder aufzunehmen und zu vertiefen: im Seminar Politik und Wirtschaft – Basiswissen und -kompetenzen für Querdenker.

[1] Quelle: Neue Leipzig Charta - die transformative Kraft der Städte für das Gemeinwohl